Erntedank? Feier gegen den Machbarkeitswahn
Gradmesser für
unser Bewusstsein als Geschöpf und Teil der Schöpfung
In jeder Eucharistiefeier danken
katholische Christen für „die Frucht der Erde und der
menschlichen Arbeit”. Was die Natur hervorbringt, wird als
Gottesgeschenk betrachtet. Einmal im Jahr bietet dieses Danken
allen Christen Anlass zu einem eigenen Fest, dem Erntedankfest.
Fest und Feier zu Erntedank haben zwei verwandte Quellen: So
lange sich der Mensch als Teil einer göttlichen Schöpfung
begreift, wird er Teile dieser Schöpfung, wie z.B. seine Nahrung
aus Ackerbau und Viehzucht, auf Gott zurückführen und sich zu
Dank verpflichtet wissen. Dies gilt vor allem dann, und dies ist
die zweite Quelle, wenn sich der Mensch als abhängig vom
Naturkreislauf erfährt, in den die Nahrungsgewinnung eingebunden
ist. Der Abschluss der Ernte bot darum immer Anlass zu Dank.
Im Buch Genesis
(1. Buch Mose) wird berichtet, dass Kain ein Opfer von den
Früchten des Feldes und Abel ein Opfer von den Erstlingen seiner
Herde brachte. In der jüdischen Tradition gehören auch alle
menschlichen Erstgeborenen Gott. Selbst Jesus Christus wurde im
Tempel als Erstgeborener Gott symbolisch dargebracht und
ausgelöst. Im Judentum gab es zwei Erntefeste im Jahreslauf: das
Pfingstfest als Getreide-Erntefest und das Laubhüttenfest als
Wein- und Gesamt-Erntedankfest. In der Kirche ist ein
Erntedankfest seit dem 3. Jahrhundert belegt, allerdings kein
weltweit verbreiteter einheitlicher Festtermin. Ihn kann es
nicht geben, weil der Festzeitpunkt je nach Klimazone
unterschiedlich fällt. In Deutschland ist der erste Sonntag im
Oktober erst 1972 von der Bischofskonferenz festgelegt worden.
Die Gemeinden sind aber nicht verpflichtet, dieses Fest auch zu
feiern. In evangelischen Gemeinden ist der Michaelstag (29.
September) oder einer der benachbarten Sonntage Festtag.
Der Monat, in
dem wir Erntedank feiern, hieß früher Holzmonat (ahd.
witumanot), Herbstmonat (ahd. herbistmanot), Havermaent oder
Herbstsaat. Die Namen deuten die Vorbereitung auf den Winter an:
Holzvorräte müssen angelegt, die Wintersaat ausgebracht werden.
Die Bezeichnung September, die im Mittelhochdeutschen schon
nachweisbar ist, leitet sich von der Zahl sieben ab, lat.
septem. Im altrömischen Kalender (156 vor Christus; Beginn des
Jahres: 1. März) war dies der siebte Monat. Als Julius Cäsar den
Kalender reformierte (56 vor Christus; Beginn des Jahres: 1.
Januar) blieb der Monatsname erhalten, auch wenn der Monat
seitdem an neunter Stelle steht.
Heutzutage ist
die kirchliche Erntedankfeier in den Gottesdienst integriert.
Erntegaben schmücken den Altar oder werden im Gottesdienst zum
Altar gebracht. In vielen Gemeinden ist dieser Gottesdienst auch
mit einer Solidaritätsaktion zugunsten hungernder Menschen
verbunden. Die weitgehende Industrialisierung der Landwirtschaft
und Mechanisierung des Ackerbaus verdrängen außerkirchliches
Erntedankbrauchtum, wo es nicht als Folklore (z.B. Almabtrieb)
erhalten bleibt. Es gab und mancherorts gibt es auch noch heute
ein vielfältiges Brauchtum, im Süden stärker als im Norden
Deutschlands.
Vor allem
Erntefeste mit Festessen und Tanz prägen diesen Tag. Meist sind
diese Erntefeste durch die Gutsherren entstanden, die alle Mägde
und Knechte z. B. mit Erntebier und festlichem Essen bewirteten.
Vorausgegangen war die Übergabe der Erntekrone oder des
Erntekranzes. In den Erntekranz eingebunden war der
Antlasskranz, ein Kranz aus Kräutern, Blumen und dem Antlass-Ei,
der an Gründonnerstag gebunden worden war, dem Antlasstag (von
antlâz, Ablass, Nachlass von Sündenstrafe, weil zu
Gründonnerstag die „öffentlichen Büßer” wieder in die Kirche
aufgenommen wurden). Kräuter und Eier dieses Tages galten als
besonders heilkräftig. In Schottland hat sich die Erntesuppe
„Hotch-potch” aus frischem Fleisch und den besten Gartengemüsen
bis heute als Spezialität erhalten. In einigen Gegenden wird aus
den letzten Garben eine „Erntepuppe” hergestellt, die als
„Opfergabe” auf dem Feld verbleibt. Anderswo wird die Erntepuppe
zum Fest mitgenommen, wo sie beim Ehrentanz mitwirkt.
Wo die
letzten Garben zu einem Erntekranz gewunden und auf den Hof
gebracht wurden, war es manchmal auch üblich, diese
Getreidebüschel vor Weihnachten einzusammeln. Die Ähren wurden
zu einer Garbe zusammengebunden und als Weihnachtsgarbe für die
Vögel auf einer Stange - oft vor der Kirche - aufgesteckt. Der
Weihnachtsfriede bezog in einer ganzheitlich denkenden Zeit auch
die Natur und besonders die Tiere mit ein (Lüttenweihnacht).
Moderne „Erntepuppen”, die heute auf den Feldern zu sehen sind,
werden aus Strohballen gebildet. Erntedankelemente sind auch in
vergleichbaren Festivitäten enthalten: Der Almabtrieb in den
Bergen beinhaltet sie ebenso wie manche Heiligenfeste im
Spätherbst. Das Fest des hl. Michael (29. Sept.) gehört dazu wie
das des hl. Martin (11. Nov.), an dem die Martinsminne (der neue
Wein) getrunken und die Martinsgans gebraten wird.
Der Mensch
greift heute nicht nur in das heranwachsende und das
verlöschende Leben von Mensch und Tier ein. Die Dekodierung der
genetischen Codes nutzt er längst zur Manipulation der Natur.
Darf der Mensch aber alles, was er kann? Ist erlaubt, was - wem
auch immer - nützt? Wer definiert das notwendige Können, wer den
Nutzen? Wo verläuft die Grenze zwischen dem Gebotenen und dem
Verbotenen? Soll vielleicht der „ideale Mensch”, der weder durch
die „richtige” Erziehung noch durch die „richtige” Ideologie zu
produzieren war, nun auf diese Weise entstehen? Wer glaubt, sich
niemandem mehr verdanken zu müssen, wer sich selbst für ein
autonomes System hält, der braucht kein Erntedankfest mehr. Den
stellen auch Erfolgsbilanzen zum Jahresende zufrieden.
Einer Zeit, in
der die ökonomische Betrachtungsweise dieser Welt immer mehr
durch die ökologische ergänzt wird, täte eine Rückbesinnung auf
die Abhängigkeit von der Natur und auf die notwendige
Dankbarkeit Gott gegenüber gut. Aller tatsächliche, notwendige
oder bloß vermeintliche Fortschritt, den die Ideologen so gerne
„Errungenschaft” nennen, darf den Mensch nicht betriebsblind
machen: Wir bleiben Teil der Natur und der Schöpfung, selbst
wenn wir in die Natur eingreifen. Vielleicht können wir mit
Gottes Materialien umgehen, sie selber voraussetzungsfrei
schaffen können wir nicht. Das Erntedankfest ist ein Gradmesser
für das gesellschaftliche Bewusstsein des Geschaffenseins und
der Teilhabe an der Schöpfung, die wir nicht geschaffen haben.
©
Prof. Dr. theol. Manfred Becker-Huberti, Köln
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